Äußerst geringe Aussagekraft der Systematischen Reviews zur idiopathischen
Umweltintoleranz (IEI-EMF) – Stellungnahme zur Einschätzung des KEMF
https://www.lobbyregister.bundestag.de/media/57/8e/384671/Stellungnahme-Gutachten-SG2412150001.pdf
Sehr geehrte Mitglieder des RTEMF, sehr geehrte Mitglieder des KEMF,
wir bedanken uns für die Besprechung unserer Stellungnahme [1] beim RTEMF und auch für
die Einschätzung des KEMF [2] zu unserer Stellungnahme zu den Systematischen Reviews
(SRs) [3].
Diese systematischen Reviews sollen die Grundlage einer Neubewertung der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur gesundheitlichen Wirkung elektromagnetischer
Felder sein. Wir freuen uns über Ihre Bereitschaft, auf weitere Punkte einzugehen. Zuvor wäre
es sinnvoll, den Kern unserer Stellungnahme tiefer zu durchdringen. Vielleicht haben wir uns
noch nicht deutlich genug ausgedrückt und bitten dieses gegebenenfalls zu entschuldigen.
In den Studien zur idiopathischen Umweltintoleranz (IEI-EMF) (EHS) werden sowohl die
Probandengruppen als auch die Methodik immer wieder als Herausforderung thematisiert.
Die systematische Abstimmung aller Faktoren sollte eine Voraussetzung für die Verwertung
der Studien sein.
Wir hatten es wie folgt beschrieben:
„Beide Reviews arbeiten mit Menschen, die sich selbst als EHS bezeichnen. In den Studien
der beiden Reviews wird vorausgesetzt, dass die Gruppe elektrosensibler Menschen ähnlich
auf EMF reagiert, das trifft aber nicht zu. Menschen, die sich als elektrosensibel bezeichnen,
reagieren sehr verschieden auf unterschiedliche Funkfrequenzen. Die Sensibilität ist abhängig
von der Einwirkzeit, Leistungsflussdichte, Frequenz, dem Frequenzmix und der
Modulation sowie dem Stadium, in dem sie sich befinden. Während einer Testung müssen
zudem sowohl die Regenerationszeit zwischen den einzelnen Testungen als auch der Ort
bzw. die Anreise zum Provokationstest beachtet werden. Erst unter Berücksichtigung dieser
Faktoren kann ein sinnvoller EHS-Provokationstest konzipiert werden.“ [1]
Dazu sollte „die Polarisation/Kohärenz und Pulsation (v. a. im ELF-Bereich) des elektrischen
Feldes, die spannungsgesteuerte Calciumionenkanäle öffnen können, was, neben dem vom
Berenis Review berichteten oxidativen Stress, sehr viele biologische Phänomene von EHSlern
erklären kann“,[1] beachtet werden.
Zu der Methodik möchten wir konkretisieren, dass aus unserer Sicht in einem systematischen
Review zu IEI-EMF nur Studien eingeschlossen werden sollten, die den typischen
Anwendungsszenarien im Alltag entsprechen und den Mix verschiedener Funkdienste sowohl
im Grundlastbetrieb wie auch mit der Realität entsprechenden variablen Nutzdatenanteilen
verwenden.
Thomas Warmbold
- Vorsitzender
gesund verNETZt e. V.
Zum Schlackenbölt 18
49835 Wietmarschen
Tel.: 05925 949160
Homogene, gut zu charakterisierende Probandengruppen sind eine wesentliche
Voraussetzung für belastbare Ergebnisse. Ein Grundproblem liegt offensichtlich in der
Gestaltung der Auswahlkriterien für die Probanden. So wie die Auswahlkriterien gewählt
worden sind, konnten erwartungsgemäß keine konsistenten Ergebnisse gefunden werden.
Dazu die Einschätzung des KEMF: „Die Initiative beschreibt richtig, dass die im Review
betrachteten Studien nicht dazu geeignet sind, jede denkbare Subgruppe mit möglicherweise
jeweils verschiedenem Ansprechverhalten zu identifizieren. Es ist wissenschaftlich
grundsätzlich unmöglich, alle individuellen Konstellationen, jeden Einflussfaktor und deren
Kombinationswirkung zu untersuchen. Daher lässt sich insgesamt nie ausschließen, dass
äußerst spezielle und sehr kleine Subgruppen durch ein „Forschungsraster“ fallen. Die
Existenz solcher Subgruppen ist bisher allerdings eine nicht hinreichend belegte Hypothese.
Der Review hat zudem auch Studien einbezogen, die individualisierte Testprotokolle
verwenden oder im häuslichen Umfeld durchgeführt worden sind. Auch dort gab es keine
belastbaren Hinweise auf einen Zusammenhang und somit keine Hinweise, dass
Regenerationszeit, Ort und Anreise relevant sind. Die Schlussfolgerungen des Reviews sind
damit aus BfS-Sicht plausibel.“ [2]
Das KEMF benennt in seiner Einschätzung, dass es nicht auszuschließen sei, dass „äußerst
spezielle und sehr kleine Subgruppen durch ein „Forschungsraster“ [2] fallen“.
Wir haben im Gegenteil den Eindruck, dass beim verwendeten Forschungsraster im
Wesentlichen Versuchsdesigns ausgewertet wurden, die nicht die Gruppe der EHSler im
Allgemeinen, sondern spezielle und kleine Subgruppen nachzuweisen suchen, nämlich solche mit Sensibilität gegenüber einzelnen speziellen Frequenzen und Pulsungen (Trägerfrequenz allein (CW) oder gleichförmig gepulster „simulierter Mobilfunk“ etc.). Das halten wir für sehr problematisch.
Eine fiktive Analogie, um dieses Kernproblem zu veranschaulichen:
Es gehe um die Frage, ob Allergien existieren. Führen Sie standardisiert weltweit mit allen
Probanden, die sich selbst als Allergiker bezeichnen, fast denselben Test durch (z. B. mit
Katzenhaaren in verschiedenen Mengen, analog zu einem variablen SAR-Wert bei CW-
Bestrahlung). Suchen Sie in den Datenbanken nach diesen Auswahlkriterien. Führen Sie den „Mengenstandard“ für Antigene ein, mit dem alle Allergene aufgrund ihres Volumens
äquivalent sind (analog zum SAR-Wert). Negative Ergebnisse von Versuchen mit
Katzenhaaren werden auf alle Allergene gleicher oder geringerer Menge verallgemeinert.
Führen Sie nach dem Goldstandard des Systematischen Reviews eine Meta-Analyse durch.
Welches Ergebnis erhalten Sie? Die meisten sich als Allergiker bezeichnenden Menschen
reagieren gar nicht auf Katzenhaare oder höchstens bei Mengen, die das Atmen erschweren (analog zu den thermischen Effekten). Das zuständige Bundesamt entwarnt: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Allergien existieren. Es mag allerdings seltene Subgruppen geben, die durch das Raster fallen.
Angenommen, einer dieser fiktiven Probanden wäre ein Freund von Ihnen, der nach seiner
Selbsteinschätzung zur Subgruppe der Nussallergiker gehört und der mit sehr heftigen
allergischen Reaktionen bis hin zu Schockzuständen reagiert: Was würden Sie diesem
empfehlen? Das zuständige Bundesamt empfiehlt eine kognitive Verhaltenstherapie mit
vorsätzlichem Provokationstest mit Nüssen und spricht bei Eintreten des Schockzustandes
von Nocebo-Effekt oder Fehlattribution. Gleichzeitig wird explizit nicht empfohlen, Nüsse zu meiden oder Nahrungsmittel auf den Nussgehalt hin zu kennzeichnen.
Die besseren Studien würden Ihrem fiktiven Freund im 20-Sekunden-Takt einmal nusshaltige, dann gleichfarbige Mandelkekse auf die Zunge legen, und er soll entscheiden, wann es welcher Keks war. Üblicherweise dauert es aber ca. 30 Minuten, bis ein Effekt eintritt und Tage, bis er wieder nachlässt. Sie finden Ergebnisse im Bereich der Rate-Wahrscheinlichkeit.
Erstaunt das?
Das Bundesamt würde zugestehen, dass das Leiden an Anaphylaktischen Schocks echt ist,
auch wenn sie vielleicht fehlattribuiert oder doch Nocebos sind, es aber nach aktuellem Stand keine Allergien gebe. Es kann sein, dass wir extrem seltene Subgruppen der sich selbst als Allergiker bezeichnenden Menschen übersehen, nämlich z. B. die, die tatsächlich gegen Katzenhaare allergisch sind.
Durch die vielen „Gegen-etwas-anderes-Allergiker“ und vielleicht auch existierende Nocebo-oder Fehlattributions-Allergiker ohne irgendeine Allergie wird der Anteil der Katzenhaar-Allergiker in den Studien sehr verdünnt.
Allerdings gibt es anders als bei Allergikern für EHS-ler ja die Möglichkeit, eine Mischung (fast) aller verdächtigen „Allergene“ statt der Katzenhaare zu verwenden, eben die primären Funkdienste mit variablen Nutzdatenanteilen. Dieser sollte die meisten Subgruppen der
Frequenz-Unverträglichkeiten abdecken. Daher muss dieser Aspekt aus unserer Sicht ein
zwingender Mindeststandard sein.
In dem „Bericht über die Anforderungen einer umweltmedizinischen NIS-Beratungsstelle aus ärztlicher Sicht und Patientensicht“, der im Auftrag des schweizerischen Bundesamts für Umwelt (BAFU) erstellt worden ist, heißt es hierzu unter 3.2: „Die ANSES empfiehlt die
Weiterführung von Provokationsstudien mit homogenen gut charakterisierten Studiengruppen, möglichst realen Signalen und individualisierten Studienprotokollen…“. [4] Es reicht nicht aus, dass Auswahlkriterien „aus BfS-Sicht ausführlich, transparent und
reproduzierbar“ [2] sind, sondern das „Forschungsraster“ muss so gestaltet sein, dass die
Spezifika dieser Gruppe erfasst werden können. Das ist wesentlich und diesen Aspekt bleiben diese Studien schuldig.
Das KEMF erläutert in der Einschätzung: „Es wurden in der Vergangenheit vorwiegend zwei
mögliche Erklärungen für das Auftreten der Symptome herangezogen: Fehlattribution und
Nocebo-Effekt. Ob diese Erklärungen sämtliche EHS-Fälle begründen können, ist
wissenschaftlich unklar.“ [2]
An keiner Stelle bestreiten wir, dass es eine Fehlattribution oder den Nocebo-Effekt geben
kann, und wir glauben, dass diese Effekte schon gut erforscht wurden und auch
kostengünstiger erforscht werden können. Im ANSES-Bericht wird beispielsweise benannt,
dass „der wissenschaftlich wiederholt beschriebene Nocebo-Effekt […] die Persistenz der
Beschwerden [begünstige], […] eine EMF-Quelle als Auslöser jedoch nicht aus[schließe].“ [4] Somit spiegelt die Einschätzung des KEMF die Forschungsliteratur nur bedingt wider und ist kein Grund, um die Ergebnisse von wichtigen Wissenschaftlern wie zum Beispiel
Panagopoulos oder Leszczynski [z. B. 5] zu ignorieren, die sich seit langem eingehend mit der Thematik beschäftigen.
Gute Ansätze bietet die verwertete individualisierte Provokationsstudie von van Moorselaar (2016) [6] die den größten Teil der benannten Kriterien anwendet, aber nur wenn alle Kriterien berücksichtigt werden, sind belastbare Ergebnisse zu erwarten. Eine Weiterentwicklung dieser individualisierten Provokationsstudie ist zu empfehlen, zum Beispiel sind deutlich größere Regenerationszeiten nötig.
Um eine aussagekräftige Studie zur idiopathischen Umweltintoleranz (IEI-EMF)/(EHS) zu
konzipieren, hätte zunächst das vorhandene Wissen zusammengetragen werden müssen.
Damit wäre sicherlich ein anderes Ergebnis herausgekommen. Nach unserer Wahrnehmung liegen nicht ausreichend gute Studien vor, die für die Verwertung in einem Systematischen Review geeignet sind.
„gesund verNETZt e. V.“ vertritt die Auffassung, dass die Gruppe der Menschen, die mit
körperlichen Symptomen auf EMF reagieren, nicht vernachlässigbar ist und einen sehr hohen Anteil der bereits erwähnten 5 % der Bevölkerung (> 4 Millionen Menschen) ausmacht. Wir bestreiten in keiner Weise, dass Symptome auch durch einen Nocebo-Effekt zu provozieren sind. Wir benennen dagegen, dass die Zahl der real Betroffenen eine Erheblichkeitsschwelle überschreitet und dringender Handlungsbedarf besteht.
Wenn keine oder zu wenig hochwertige Provokationsstudien für eine Bewertung vorliegen,
sollten weitere in der Diagnostik sonst übliche Methoden herangezogen werden, um aus der Gesamtschau eine Bewertung vorzunehmen zu können.
So bemängeln wir beispielsweise, dass die physiologische Reaktion des Körpers auf
elektromagnetische Felder unzureichend untersucht worden ist. Auch die Erstellung sowie die Auswertung von Fragebögen können einen Beitrag leisten.
Wir unterstützen einen Vorschlag des Technikfolgenausschusses des Deutschen
Bundestages. In dem Bericht über „Mögliche gesundheitliche Auswirkungen verschiedener
Frequenzbereiche elektromagnetischer Felder (HF-EMF)“, werden die anerkannten
Grundsätze des Risikomanagements diskutiert und unter anderem Schutzzonen für vulnerable Gruppen vorgeschlagen [7]. Wir unterstützen zudem die folgende Einschätzung des KEMF:
„Dass Menschen, die sich als elektrosensibel bezeichnen, real leiden, ist wissenschaftlich
unbestritten.“ [2]
Wir hoffen, dass wir mit diesem Schreiben darlegen konnten, dass die bisherige Forschung zu EHS basierend auf Provokationsstudien gänzlich unzureichend ist.
Aufgrund der schwerwiegenden Mängel bei den Auswahlkriterien, die nur die Hypothesen der Fehlattribution und des Nocebo-Effekts generieren können und der daraus resultierenden
unausweichlichen Fehlinterpretationen ist dringend davon abzuraten, diese Studien zur WHO- Neubewertung der gesundheitlichen Wirkung elektromagnetischer Felder zu verwerten. Eine intersektionale Betrachtung [z. B. 7, 8], wie sie vielfach gefordert wurde, muss eine Grundlage sein, um eine WHO-Neubewertung vornehmen zu können.
Selbst wenn das KEMF davon ausgeht, dass es nur eine kleine Subgruppe ist, deren
körperliche Symptome in einem kausalen Zusammenhang mit EMF stehen könnten, muss die Anwendung des Vorsorgeprinzips greifen. So sehen wir es als geboten an, die Diagnostik weiterzuentwickeln und Schutzzonen einzurichten. Zudem sehen wir das BfS in der Verantwortung, der zukünftigen Bundesregierung abgestimmte Empfehlungen auszusprechen.
Für Konkretisierungen und Rücksprachen stehen wir gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Warmbold
für gesund verNETZt e. V.
[1] https://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/DE/fachinfo/emf/rtemf/protokoll-31-sitzung-anlage-1.html
[2] https://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/DE/fachinfo/emf/rtemf/protokoll-31-sitzung-anlage-2.pdf?__blob=publicationFile&v=1
[3] https://doi.org/10.1016/j.envint.2023.108338, https://doi.org/10.1016/j.envint.2024.108612
[4] https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/elektrosmog/publikationen-studien/studien.html
[5] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35258236/
[6] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S016041201630931X
[7] https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000156963
[8]
https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/expertise_mehrdimensionale_diskriminie
rung_jur_analyse.pdf?__blob=publicationFile