Newsletter-Ausgabe 08/2024: Soziale Realität und Risikokommunikation des Mobilfunks
Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Nona Schulte-Römer beim Mitglieder- Wochenende in Friesenhausen
Liebe Freunde und Freundinnen einer menschen- und umweltfreundlichen Vernetzung,
bei unserer Mitgliederversammlung haben wir einen Vortrag von Dr. Nona Schulte Römer gehört und konnten im Anschluss über die Inhalte mit der engagierten Forscherin diskutieren.
Frau Dr. Nona Schulte Römer ist Soziologin an der Humboldt Universität in Berlin und forscht zum Thema „Un/doing urban exposure – engaging with 5G-related electromagnetic waves in Belgium and Germany“. Das Projekt wird von Prof. Dr. Ignacio Farías geleitet und ist vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert. Die Ziele dieses Forschungsvorhabens sind u.a., die Betroffenheit als soziale Realität und Praxis zu verstehen. Außerdem sollen Chancen und Grenzen der Risikokommunikation ausgelotet und Alternativen aufgezeigt werden. Orte der Forschung sind die Beispielstadt Brüssel. Die Untersuchung der Risikokommunikation und Gegenkommunikation findet auch in Deutschland statt.
Dafür führt sie Interviews und ist teilnehmende Beobachterin z.B. bei Veranstaltungen des BfS – Bundesamt für Strahlenschutz und im Rahmen von 5G-Konferenzen in Brüssel. Dabei redet sie mit Elektrosensiblen (z.B. beim internationalen Treffen Elektrosensibler 2023 und 2024), dem BfS und führte auch Interviews mit Mitgliedern von diagnose:funk.
In ihrer Auswertung der Interviews und Beobachtungen legt sie dar, dass die Bewegung gegen 5G keine homogene Gruppe sind. Vielmehr lassen sich in der Bevölkerung ‚idealtypisch‘ fünf Akteurs-Gruppen unterscheiden, die im Wavematters Projekt mit unterschiedlichen sozialen Praktiken in Verbindung gebracht werden:
Mobilfunk-Nutzung (bisher nicht im Fokus der Forschung): Die Mehrheit der Gesellschaft nutzt ihre Handies unbeschwert und informiert sich bei Bedarf via offiziellen Kanälen (z.B. BfS, Medien) über Risiken von EMF. Diese Gruppe engagiert sich nicht gegen den 5G-Mobilfunkausbau, begrüßt ihn möglicherweise und geht vermutlich davon aus, durch bestehende Grenzwerte geschützt zu sein.
Mobilfunk-Kritik: Diese Gruppe von Mitbürger:innen steht Mobilfunk-Technologien und digitalen Zukunftsvisionen aus unterschiedlichen Gründen kritisch gegenüber und engagiert sich entsprechend politisch dagegen – in Gremien, im Netz oder auch mittels Demonstrationen auf der Straße.
Selbstschutz: Diese Gruppe von Anwohner:innen ist verunsichert und teils auch empört angesichts der oft stillschweigenden Installation neuer Antennen in ihrem direkten Umfeld und befürchten Gesundheitsrisiken. Die offizielle Risikokommunikation überzeugt sie nicht. Sie informieren sich entsprechend eigeninitiativ. Sie sind nicht an EHS erkrankt, aber möchten sich und ihre Familien vorsichtshalber schützen.
Körperliches Leiden: Diese Gruppe leidet unter Elektro(hyper)sensibilität. Aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen können diese Betroffenen ihre Belange oft/zum Teil nicht öffentlich vertreten. Je schwerer betroffen sie sind, desto mehr sind sie von gesellschaftlichen Aktivitäten und Angeboten ausgeschlossen.
Verschwörungskritik: Diese Mobilfunk-Kritiker:innen sehen und bekämpfen den aktuellen Ausbau von Mobilfunknetzen als Teil weitreichender (geheimer) Machenschaften mächtiger Akteure und bringen beispielsweise 5G mit anderen gesundheits- oder überwachungsrelevanten Themen in Verbindung, z.B. mit Covid19. (Bisher kaum betrachtet, aber Interessant mit Blick auf Abgrenzungsversuche der oben genannten Gruppen).
Diese Unterscheidung ist erst ein vorläufiges Forschungsergebnis und wird in den nächsten Monaten durch die Auswertung der qualitativen Daten (Interviews, Beobachtungsnotizen) mit Blick auf folgende Aspekte überprüft:
- Raumbezogene Praktiken: Wie wirkt sich das Thema Mobilfunk auf die Mobilität von Betroffenen aus, wie weit reichen deren Netzwerke?
- Politikbezogene Praktiken: Wie und auf welcher Ebene findet politisches Engagement statt?
- Körperbezogene Praktiken: Wer fühlt sich wie betroffen und mit welchen Praktiken wird versucht, sich zu schützen?
- Evidenz-bezogene Praktiken: Welche wissenschaftlichen Beweise werden herangezogen, um Belange zu bekräftigen? Welche ökonomischen Ressourcen mobilisieren Gruppen?
Im Forschungsprozess wird ein Spannungsfeld in der Kommunikation sichtbar. Betroffene wollen gehört werden, werden es aber nicht, z.B. von Ärzten, Behörden oder vor Gericht.
Abschließend stellt Nona zur Diskussion, dass sich für Gruppen, die sich für „gesunde Vernetzung“ oder „safe connections“ einsetzen, drei Dilemmata ergeben:
- Dilemma der Randgruppierung: Bündnisse für „safe connections“ sind auf Verbündete angewiesen, müssen sich aber auch klar gegen Gruppen mit eigenen politischen Agenden (z.B. Verschwörungserzähler:innen) abgrenzen. Bsp: Bündnis gegen 5G in Brüssel versammelte sich hinter unterschiedlichen Zielen und zerbrach daran.
- In der Studie wird von einem Dilemma der Evidenzbasierung gesprochen. Politisches Handeln im Namen der Gesundheit erfordere wissenschaftliche Nachweise. Wir hingegen sehen vor allem ein Dilemma in den Bewertungskriterien. Die Evidenz wird maßgeblich von den Bewertungskriterien beeinflusst. Die Bewertung muss wissenschaftlich fachübergreifend die pluralistische Gesellschaft widerspiegeln. Leider ist dies aktuell nicht der Fall.
- Dilemma der Polarisierung: Bürgerbewegungen grenzen sich scharf ab von offiziellen Risikobewertungen – z.B. des BfS („Wer XY sagt, lügt“). Ziele wie „safe connections“ verlangen aber Kooperation, auch mit politischen und wissenschaftlichen Akteuren.
Zum Weiterlesen: https://wavematters.eu/
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